Bis bald, Nicaragua! Petra Rostock über die IJGD-Brigade August 2000
Am 1. August, dem wahrscheinlich einzigen Tag im Jahr, an dem ganz Managua auf der Straße ist und die Fiesta Santo Domingo feiert, erreichten wir Managua – unser Gepäck leider nicht. Im alljährlichen Treffpunkt für Brigadist(inn)en – der Hospedaje Santos – stand uns um zwei Uhr nachmittags Franz Thoma gegenüber, der zum Aufbruch drängte, um die Stadt noch vor dem anstehenden Saufgelage verlassen zu können. So kam es, dass uns Nadine, die fünf Minuten zu spät kam, verpasste und mit dem Bus nachkommen musste.
Noch völlig benommen von Franz‘ Fahrkünsten standen wir auf einmal in Masachapa, unserer neuen Heimat für die nächsten vier Wochen. Als wir (Britta, Daniel, Petra, Stefan und ich) ausstiegen, wurde uns ein herzlicher Empfang mit rufenden Kindern und lachenden, uns umarmenden mamás bereitet, den Susanne, die schon zwei Wochen vorher nach Masachapa gekommen war, perfekt vorbereitet hatte. Unsere Ängste vor dem Unbekannten waren sofort verflogen. Der erste Kontakt mit den Familien wurde uns sehr leicht gemacht, weil wir gleich Teil unserer Familien wurden, ihr Haus war sofort auch unser Haus. Die Verwandtschaftsverhältnisse konnten wir erst nach und nach durchschauen, da jeder mit jedem verwandt zu sein schien, und auch die Namen konnten wir uns erst nach einer Weile merken, wohingegen alle Kinder im Dorf sofort unsere Namen kannten.
Unsere „Nachzüglerin“ Nadine kam jetzt mit dem Bus an und wurde auch sofort in das Dorf integriert. Gleich am ersten Abend veranstalteten wir eine Fiesta auf unserer Straße (die bald „Calle de los Alemanes“ hieß), um Stefans Geburtstag zu feiern. Danach fielen wir schon um 21 Uhr in unsere Betten und wurden am nächsten Morgen um 5:00 Uhr – für nicaraguanische Verhältnisse eine normale Zeit – von Hahnengekrähe und laufendem Radio geweckt. Noch völlig übermüdet und mit unserem Jetlag kämpfend, trafen wir uns auf der Baustelle mit dem Vorarbeiter Tomás, dem Mann mit der Trillerpfeife, der uns eine Einführung in das Herstellen von Erdbebenvorrichtungen gab, eine Arbeit, die wir erst später zu schätzen wussten, nachdem wir mit Blasen an den Händen unzählige Gräben für Fundamente ausgehoben hatten. Wir waren alle sehr erstaunt, mit welchen einfachen Mitteln und welchem Improvisationstalent auf der Baustelle gearbeitet wurde. Beeindruckend war auch, wie die schmächtig wirkenden Nicas Sachen (Zementsäcke, Dachplatten, Betonklötze...) auf ihren Rücken schleppten, die wir Cheles mit Mühe zu zweit bewältigen konnten.
Anfänglich wurden wir noch mit Abstand von den Bauarbeitern neugierig gemustert, was sich nach und nach aber in interessierte Fragen umwandelte bis hin zu Deutschstunden in der Mittagspause. Unseren Feierabend genossen wir gerne mit einem erfrischenden Bad im Pazifik, aber nicht ohne das Bild der zwei Meter langen Haie im Hinterkopf zu haben, die die Fischer eines Abends in unserem Beisein an Land zogen. Die Abende wurden im gemütlichen Beisammensein mit unseren Familien vor dem Fernseher oder auf der Straße bzw. vor Melbas Laden verbracht, in dem wir uns auch unsere tägliche Dosis eisgekühlter Cola holten (im festen Glauben, sie würde uns vor Durchfall bewahren können) und mit den Kindern spielten.
Nach acht Tagen Dorfleben freuten wir uns auf unseren ersten Ausflug nach Managua, wo wir uns auf fast food, Internet und ins Nachtleben stürzten. Nach einer kurzen Regenerationsphase brachte uns Franz für drei Tage nach Los Rizos, um uns in das noch ländlichere Leben Nicaraguas zu werfen, „damit wir noch was anderes kennen lernen.“ Leider waren diese drei Tage nicht genug Zeit, um die gleiche Vertrautheit mit den Leuten herzustellen wie mit unseren masachapischen Familien, jedoch wurden wir auch dort sehr herzlich aufgenommen und mit vielen Bohnen versorgt (ausgerechnet in unserer „Oh-nein-schon-wieder-Bohnen“-Phase). In Los Rizos sind wir auch den Fluss entlanggelaufen, an dem die Frauen vor dem Trinkwasserprojekt über steile, in Stein gehauene Stufen Wasser holen mussten. Noch heute waschen einige Frauen ihre Wäsche im Fluss.
Den folgenden Montag haben wir die Demofinca „El Tamarindo“ besucht, die zusammen mit den Campesinos versucht, ökologischen Landbau zu betreiben und Getreidesilos für die Bauern bereitstellt sowie Ziegen züchtet. Die nächsten zwei Tage buddelten wir Bewässerungsgräben für den Terrassenanbau. Leider konnten wir keine Bäumchen pflanzen, da der Regen trotz Regenzeit ausblieb, was ein großes Problem für die Bauern war. Besonders viel arbeiten mussten wir auf der Finca nicht, da Rafael uns ansah, dass wir Cheles Probleme hatten, Sonne und körperliche Arbeit zu vereinbaren, weshalb er uns schnell wieder nach Hause an den Strand schickte.
Auch an kulturellem Programm hatte Franz nicht gespart: Wir besuchten die deutsche Schule in Managua, wo wir uns mit einem deutschen Lehrer unterhielten, was einen krassen Gegensatz zu unserem späteren Besuch des Colegio in Masachapa bildete. Dort wurden wir von Klasse zu Klasse gereicht, mussten uns überall vorstellen, woraufhin ein Loblied auf uns gesungen wurde, was für gute Menschen wir und wie dankbar alle für unsere Hilfe seien. Da uns das sehr unangenehm war – wir mögen eine Hilfe auf der Baustelle gewesen sein, aber auch wir haben von unserem Aufenthalt profitiert, nur eben nicht im materiellen Sinn - , haben wir dann darum gebeten, an einer Unterrichtsstunde teilnehmen zu dürfen. Ungewohnt war für uns, dass die Schüler immer aufstehen mussten, wenn sie etwas sagen sollten/wollten. Auch waren Wissensunterschiede unter den Schüler(innen) zu bemerken, allerdings etwas, was alle Gesamtschulen kennzeichnet.
Durch das Gesundheitszentrum von San Rafael del Sur wurden wir von dessen liebenswürdigen Direktor geführt. In der Apotheke des Gesundheitszentrums konnten wir feststellen, dass genug Chlorochin für den Fall eines Malariaausbruchs vorhanden war, der bei uns zum Glück nicht eintraf. In der einzigen Zementfabrik Nicaraguas wurden wir in die chemischen Geheimnisse der Zementherstellung eingeweiht und durften in den Hochofen schauen. Allerdings waren wir fast die einzigen, die in der gesamten Fabrik ihre Atemmasken trugen und auch sonst ließen die Schutzmaßnahmen, gemessen an deutschen Standards, zu wünschen übrig. Auch auf den Vulkan Santiago und in das vom Erdbeben gebeutelte Masaya brachte uns Franz, wonach wir vier Tage „Urlaub“ hatten, in denen wir Granada und die paradiesische Isla de Ometepe besuchten, auf der wir sehr touristisch Sonne und Strand genossen.
Insgesamt vergingen die vier Wochen viel zu schnell. Natürlich gab es auch schwierige Momente, vor allem, wenn die Sprache auf das liebe Geld kam. Für nicaraguanische Verhältnisse waren wir Millionäre und es war schwer, klar zu machen, dass wir zwar nicht arm, aber deshalb trotzdem nicht stinkreich sind, um mal eben einen Farbfernseher zu kaufen. Aber die Herzlichkeit der Familien überwog alles: Das Gefühl, auf einmal noch eine Familie zu haben, in der immer ein Platz für uns sein wird und die sich freut, wenn wir wiederkommen. So sind wir dann auch alle schweren Herzens weitergereist, mit dem festen Wunsch, bald wiederzukommen, vielleicht schon im nächsten Jahr?