Der Konsens von Porto Alegre
Im Folgenden zitieren wir einen Artikel von Ignacio Ramonet, El País, 12.02.2001, über das erste „Weltgesellschaftsforum“, das als Antithese zum Weltwirtschaftsgipfel von Davos veranstaltet wurde
Mit gewisser Diskretion führt seit mehr als zwölf Jahren eine linke Koalition, die von der Arbeiterpartei (PT) geführt wird, in Porto Alegre, Hauptstadt des brasilianischen Staats Rio Grande do Sul, ein einzigartiges politisches Experiment durch: die Haushaltsbeteiligung. Die Bürger(innen) nehmen direkten Einfluss auf die Ausarbeitung des Haushalts der Stadt.
In jedem Viertel entscheidet ein demokratisch gewähltes Komitee souverän darüber, in welches Gebiet die kommunale Finanzierung fließen soll. Es entscheidet nicht nur, sondern überwacht auch den gesamten Prozess der Vertragsabschlüsse mit Firmen, der Durchführung der Arbeiten und der Auszahlung der Gelder, was die Möglichkeiten der Korruption abbaut. Resultat: In zwölf Jahren hat diese Stadt mit eineinhalb Millionen Einwohner(inne)n eine spektakuläre Veränderung erlebt: Schulen, Krankenhäuser, Pflasterung, Kanalisation, Transport, Müllabfuhr, Museen, Parks und Gärten, Restaurierung des alten Stadtkerns, Sicherheit usw. Sie ist heute nach allgemeiner Ansicht eine der am besten verwalteten Städte Lateinamerikas und die mit der besten Lebensqualität.
Die Zufriedenheit der Bürger(innen) manifestiert sich in den Kommunalwahlen: Im November 2000 wurde der Bürgermeisterkandidat der PT, Tarso Genro, mit mehr als 60 % der Stimmen wiedergewählt... Dies alles in einer Atmosphäre offener demokratischer Debatte, denn es gibt eine sehr aktive Opposition von Rechten und die PT kontrolliert keines der großen Kommunikationsmedien, weder die Presse, noch das Radio und noch viel weniger das Fernsehen. Es scheint daher nicht verwunderlich, dass man sich bei der Wahl eines symbolträchtigen Ortes für das Erste Weltgesellschaftsforum für Porto Alegre entschied.
Aber wozu ein Weltgesellschaftsforum organisieren? Um das zu verstehen, muss man sich zum Fall der Mauer in Berlin 1989 und zur Implosion der Sowjetunion 1991 zurückbewegen. Diese beiden Megaereignisse provozierten, aus nicht einfach zu erklärenden Gründen, eine zeitweilige Schläfrigkeit in Bezug auf das, was wir das kritische Denken nennen könnten. Der niederschmetternde Sieg des westlichen Lagers im Kalten Krieg und der des Kapitalismus über den Kommunismus sowjetischen Typs begünstigten eine unwiderstehliche Ausbreitung der neoliberalen Thesen und der Entwicklung der Globalisierung. Bis Mitte der neunziger Jahre triumphierten diese Thesen auf überwältigende Art und Weise, ohne auch nur auf Widerstand zu stoßen. Es waren Jahre, in denen sich die Hauptanstrengung kritischer Opponenten im Wesentlichen darin verblutete, diese Phänomene zu identifizieren, zu beschreiben und zu verstehen (Was ist Neoliberalismus? Wie funktioniert die Globalisierung?).
Es war die Zeit, in der wir, als Konzept der kritischen Identifikation, jenes „eine Denken“ vorschlugen. Eine Art, den Gegner und seine hegemonistischen Ambitionen zu benennen. Und eine Form zu sagen, wo einige – die Ultraliberalen – behaupteten, dass wir uns in einer rein technischen und wissenschaftlichen Realität befanden, wir anderen aber konkret sahen, worum es sich handelte: schlicht und einfach um eine Ideologie. Die Ideologie des Marktes. Der Markt und seine Gesetze als Lösung aller Probleme der Gesellschaft. Und als totalitärer Mechanismus mit der Berufung, den Staat und alle kollektiven Organisationen zu ersetzen. Der Markt gegen den Staat, das Private gegen die Öffentlichkeit.
Im Verlauf dieser ersten Phase der Beobachtung, des Nachdenkens und des Verstehens wurden auch die hauptsächlichen Akteure der Globalisierung identifiziert. Die „verdeckte Regierung“ des Planeten, bestehend aus vier zentralen Organisationen, wurde demaskiert: Der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank, die Organisation für Zusammenarbeit und Wirtschaftliche Entwicklung, und die Welthandelsorganisation (WHO). Im Schoße dieser vier „Ministerien“ wurden die politischen Rahmenbedingungen (die „Strukturanpassung“) ausgearbeitet, die die lokalen Regierungen in ihren Gesellschaften einführen müssen und die so den Geist der Demokratie und des Gesellschaftsvertrages pervertieren.
Mit Bestürzung entdeckten wir darüber hinaus, dass die systematische Anwendung dieser neoliberalen Politiken in den meisten Regionen des Planeten die Ungleichheiten verschlimmerten. Dass, wenn 1960 20 % der reichen Bevölkerung dreißig mal höhere Mittel besaßen als 20 % der ärmsten, 1995 die Mittel der Reichen 82 mal höher waren! Dass in mehr als 70 Ländern das Pro-Kopf-Einkommen geringer war als vor 20 Jahren... Dass weltweit 3 Milliarden Menschen – die Hälfte der Menschheit! – mit weniger als 2 Dollar pro Tag lebten. Schließlich zeigen jüngste Schätzungen der UNO, dass die 225 reichsten Menschen des Planeten ein Vermögen besitzen, das dem zusammengerechneten Einkommen von 2,4 Milliarden Menschen (oder 40 % der Weltbevölkerung!) entspricht. Und dass das Vermögen der 15 reichsten Menschen größer ist als das Bruttoinlandsprodukt aller afrikanischen Staaten südlich der Sahara...
Angesichts dieser skandalösen Aufdeckungen begann eine zweite Phase des Protests und des Aufstands. Man kann sagen, dass sie symbolischerweise am 1. Januar 1994 begann, als auf der internationalen Szene der Subcomandante Marcos und seine Zappatistenbewegung auftauchen. Marcos theoretisiert über die Verbindung zwischen weltweiter Globalisierung und Marginalisierung der Armen des Südens. Danach entsteht eine Welle von Protesten mit großer Spannbreite, die die entwickelten Länder erreicht, wie die gesellschaftliche Bewegung in Frankreich 1995. Diese Phase des Protests gegen die Ungerechtigkeiten der Globalisierung schafft neue Vorbilder und Helden – wie den erwähnten Subcomandante Marcos oder den französischen Bauern José Bové (der ein McDonald‘sRestaurant zerstörte; die Redaktion) – kämpferische Organisationen neuen Typs – wie ATTAC (französischer Verein zur Stärkung der Zivilgesellschaft; d.R.) – und ungewöhnliche Kämpfe, die breiten Platz in den Medien finden: Seattle, Washington, Prag, Okinawa, Nizza...
Auf diese beiden ersten Phasen der Analyse und des Protests musste unvermeidlich eine dritte Phase der Vorschläge folgen. Ende der Rebellion gegen etwas und Beginn einer Aktion für etwas. Aber wofür? Hier taucht der Geist des Weltgesellschaftsforums von Porto Alegre auf. Entworfen als Antithese zum Weltwirtschaftsgipfel von Davos. Während dieser im Norden installiert wurde, wird der von Porto Alegre im Süden angesiedelt. Während sich in Davos die neun Herren der Welt (Unternehmer, Bänker, Regierende) treffen, versammeln sich in Porto Alegre die Bürger(innen) und Völker des Planeten. Das einzig Gemeinsame, aus Gründen der Medieneffizienz, ist der Zeitpunkt: 25. bis 30. Januar in beiden Fällen.
Während ein verstärktes und militarisiertes Davos dem schlechten Gewissen und dem Schuldgefühl unterworfen erscheint, springt der festliche Erfolg von Porto Alegre ins Auge. Etwa 12.000 Teilnehmer(innen) - man erwartete nur 5.000 -, 120 repräsentierte Länder, 1.600 akkreditierte Journalisten, mehr als 800 NROs, 400 Foren, Dutzende von Intellektuellen internationalen Zuschnitts (...) ...
Das neue Jahrhundert begann tatsächlich in Porto Alegre. Und die Fanatiker der Globalisierung wissen, dass die Dinge wahrscheinlich schon nicht mehr sind wie früher. Denn man hat begonnen zu ahnen, dass eine andere Welt möglich ist. Eine Welt, in der die Auslandsverschuldung abgeschafft werden würde; in der die armen Länder des Südens eine wichtigere Rolle spielen würden; in der man Schluss machen würde mit den Strukturanpassungsmaßnahmen; in der man den Devisenmärkten die Tobin-Steuer auferlegen würde (James Tobin fordert eine Besteuerung von Devisengeschäften; d.R.); in der die Steuerparadiese abgeschafft würden; in der die Entwicklungshilfe erhöht werden und in der man nicht das Modell des Nordens, das ökologisch unhaltbar ist, übernehmen würde; in der man massiv in Schulen, Häuserbau, Gesundheit investieren würde; in der man den Zugang zu Trinkwasser fördern würde, dessen 1,4 Milliarden Menschen entbehren; in der man ernsthaft an der Emanzipation der Frau arbeiten würde; in der man das Prinzip der Vorsicht gegen alle Genmanipulationen anwenden und in der der gegenwärtigen Privatisierung des Lebens Einhalt geboten würde. Alles in allem eine Welt, in der der „Konsens von Washington“ endlich durch diesen neuen Konsens von Porto Alegre ersetzt werden würde.
Ignacio Ramonet ist Direktor von „Le Monde Diplomatique“, Gründer von ATTAC und einer der Promotoren des Weltgesellschaftsforums von Porto Alegre.