Ein Elektron in der Warteschleife oder: Bericht über die Elektroarbeiten im Gesundheitszentrum Masachapa

Es war einmal ein kleines Lichtteilchen namens Photon, welches seine Mutter, die Sonne verlassen hatte, um sich auf den Weg zur Erde zu begeben. Dort hoffte es, etwas Aufregendes zu erleben. Zufällig gelangte es eines Morgens nach Masachapa, einem Fischerort an Nicaraguas Pazifikküste. Das Lichtteilchen leuchtete über eine außergewöhnlich große und interessante Baustelle und wurde vom vielen Trubel durch die fleißigen Arbeiter und dem regen Baugeschehen beeindruckt. Da wurden zum Beispiel Zinkdächer mit Rostschutzfarbe angestrichen, Bodenfliesen verlegt und anschließend mit ziegelrotem Pulver die Fugen verfärbt, Fundamentgruben für Zusatzgebäude ausgehoben, ein großer Erdwall zum Schutz vor Hochwasser aufgeschüttet, Wasch- und WC-Becken, Duschen usw. in den farbig nett gestalteten Sanitärräumen angebracht, eine schöne Ecke für den Aufenthalt des Personals eingerichtet, der Geburtenraum besonders sorgfältig ausgestattet, Möbel und Türen produziert und eingebaut und vieles Interessante mehr. „Ein schöner Bau“, dachte das Photon und entschied sich für eine Landung im Zentrum des Geschehens. Dort nämlich wurde es geheimnisvoll wie von einem Magnet durch eine dunkle Glasfläche auf dem Dach eines bereits fertigen Technikgebäudes angezogen. „Das müssen wohl solche Solarmodule sein...“, dachte es kurz vor seinem Aufprall, „...welche Strom aus Licht machen....“ Da war ihm plötzlich ängstlich zumute. Doch ehe es sich anders entscheiden konnte, kollidierte es auf der Oberfläche dieser Photovoltaikmodule und wurde in einem physikalischen Gewirr von Raumladungen, magischen Feldern und Zusammenstößen mit anderen Teilchen im Inneren einer Solarzelle zu einem Elektron (Elektroteilchen) umgewandelt.

Bevor es sich über seine neue Identität besinnen konnte, gelangte es über Kabelwege und eine Apparatur namens Laderegler in einen Elektrospeicher - eine Batterie. Hier warteten bereits gelangweilt seit geraumer Zeit viele andere Elektroteilchen, die über den gleichen Weg hierher gelangt waren. Trotz der Gesellschaft war es hier im Gegensatz zum aufregenden, spannenden Geschehen auf der Baustelle dunkel und öde. Unser Teilchen war gar nicht glücklich über seine Umwandlung vom Photon in ein Elektron. Das Warten begann, denn obwohl die Solaranlage bereits im Frühjahr 2000 installiert worden war, wurden die übrigen Verkabelungen und die Elektroanlage des Gesundheitszentrums erst ab November errichtet. Die langweilige Ruhe im Batterieraum, der während der Bauphase als Zwischenlager diente, wurde dann ab November manchmal unterbrochen, wenn die Elektrobrigadist(inn)en im chaotischen Gewirr nach Materialien oder Werkzeug suchend fluchten: „...ist das Kabel schon wieder alle“ oder „...wo ist denn der Seitenschneider nun schon wieder?“

Übrigens warteten auch andere mit unserem Elektron auf die Fertigstellung der Baumaßnahmen. Da wartete z.B. eine ältere Frau, die uns fragte, ob denn das neue Gesundheitszentrum bald fertig wäre, denn sie habe ein Herzleiden. Leider mußten wir sie vorerst noch ins alte Zentrum oder nach San Rafael schicken. Franz wartete, bis unsere Verkabelungsarbeiten abgeschlossen waren, um die Zwischendecke für die Innenräume anbringen zu können und den Wächter, der die Baustelle nachts behütete, ausreichend mit Licht zu versorgen. Die Ärzte und Ärztinnen und Krankenpfleger(innen) warteten auf ihren bevorstehenden Um- und Einzug in das neue, viel schönere Gebäude. Unser Urlaub und die geplante Tour auf dem Río San Juan warteten darauf, ob am Ende noch genügend Zeit vor unserem Rückflug bleiben würde. Die Kinder der benachbarten Schule warteten auf das ausstehende Einweihungsfest, weil sie sich eine Piñata und damit verbundenen Bonbonregen erhofften. Der preisgünstige Elektrohändler auf dem Markt in Managua wartete sicherlich und hoffte, dass wir mal wieder vorbeikämen, um einen Großeinkauf bei ihm zu tätigen. Melba, die Besitzerin des benachbarten Kioskes, wartet auf die erhoffte Umsatzsteigerung aufgrund des Patientenanstroms. Alle Helfer(innen) und Projektbeteiligte hier in Deutschland warten auf den erfolgreichen, leider verzögerten Projektabschluss und darauf, einen weiteren hoffentlich abschließenden Bericht hier im „Atabal de Nicaragua“ lesen zu können.

Angesichts der vielen Wartenden und Erwartungen installierten wir nach Leibeskräften. Das „Elektroteam“ bestand aus fünf Berliner(inne)n, die ihren Arbeitsaufenthalt selbst finanzierten, und 3 nicaraguanischen Helfern. Da waren Leonardo, Elektriker aus San Rafael del Sur, Denis, im Rahmen des Projektes ausgebildeter Bauhelfer, Márlon, Tourismusstudent in Managua und Sohn des Baustellenleiters, Tom, diplomierter Tropenpflanzenexperte und Taxifahrer, Roman, Computertechniker, Birgit, Gesundheitswissenschaftlerin, Clemens und Sven, Projektierungsingenieure für Solartechnik. Durch gegenseitige spielerische Provokationen entbrannte ein kleiner Wettbewerb zwischen uns „Glühwürmern“ und Markus mit seinem Tischlerteam, den „Holzwürmern“, die seit Oktober 54 Türen, Türrahmen und Möbel fertigten und einbauten. 53 Räume warteten darauf, nicht nur mit Steckdosen, Lampen und Schaltern ausgestattet zu werden, sondern zusätzlich zur herkömmlichen Stromversorgung teilweise auch einen Notstromanschluss zu erhalten.

Der Hausanschluss wird von einem Trafo des öffentlichen Stromnetzes mit einer Leistung von 50 Kilowatt gespeist. Diese Eingangsleistung forderte das Verlegen und beschwerliche Biegen, Bearbeiten und Anschließen (teilweise unter Spannung) armdicker Erdkabel am Strommast und an der Hauptverteilung. Von der Hauptverteilung wird der Strom zu 3 Unterverteilungen und dem Technikgebäude mit der Notstromanlage aufgeteilt. In den Unterverteilungen, worin sich Sicherungsautomaten befinden, sind 120 Zuleitungen zu den einzelnen Stromkreisen angeschlossen, die leitungsmäßig das gesamte Gebäude erschließen und sich in hunderten von Verteilerdosen am Bestimmungsort wiederum aufteilen, um bis zu 6 Steckdosen, Schalter oder Raumbeleuchtungen elektrisch zu verbinden. Als Kabeltrasse für die Erschließung der Hauptleitungen diente eine zweckentfremdete, nach oben offene, in der Zwischendecke abgehängte Kunststoffregenrinne.

Häufig wurde unter dem aufgeheizten Blechdach bei saunaartigen Verhältnissen auf wagemutigen, leiterähnlichen Eigenanfertigungen balancierend gearbeitet. Mehr als ein Kilometer Kunststoff-Installationsrohr, kombiniert mit unzähligen Verbindungen, Bögen, T-Stücken und Verschraubungen, wurde zu kreativen Konstruktionen mittels übelriechendem Kleber zusammengefügt und insgesamt mehr als 4 Kilometer Kabel verlegt. Bei unseren glücklicherweise friedlichen Diskussionen über die Platzierung der Lampen bestand häufig ein Widerspruch zwischen späterem Beleuchtungsbedürfnis und möglichst geringem Installationsaufwand. Natürlich wurde unsere beherzte, anfangs endlos wirkende Arbeit von Komplikationen und Hindernissen erschwert und unterbrochen. Eigentlich fehlte fast immer irgendetwas, was dringend benötigt wurde und nur schwer zu beschaffen war, so dass Humberto mit endlosen Besorgungslisten zusätzlich belastet werden mußte. Einige Male hielten uns halbe Schulklassen von der Arbeit ab, die Interviewaufgaben zu erfüllen hatten und uns auf der Baustelle nach Herkunft, Arbeitsinhalten, Motivation usw. befragten. Beim beschwerlichen Einziehen der Kabel in die unter Putz vorbereiteten Leerrohre mußten wir schreckhaften Mitteleuropäer(innen) hin und wieder feststellen, dass sich im Hohlraum ein Skorpion eingenistet hatte.

Belastend war, dass wir der angespannten Finanzsituation (aufgrund der Verteuerung des Projektes wegen der hohen Dollarkursschwankungen) hilflos ausgeliefert waren. Die Mittelknappheit machte sich extrem bei der Arbeit vor Ort bemerkbar. Daher waren unsere Materialeinkäufe von den Berliner Spendeneingängen abhängig. Doch die Grundstimmung war eindrucksvoll und die Motivation war außergewöhnlich, denn wir waren überzeugt, etwas Sinnvolles zu tun.

Regelmäßig zum Nachmittag kam Franz den Baufortschritt kontrollieren und koordinierte die nächsten Arbeiten. Der dann folgende Feierabend wurde häufig in geselliger Runde beim stimmungsvollen Sonnenuntergang am Strand verbracht. Fast ein Wunder war, dass bei dem unübersichtlichen Leitungsgewirr, das zum Schluss in den Unterverteilungen zu liebevoll geformten „Kabelbäumen“ zusammengeführt wurde, nicht mehr als letztlich 3 Vertauschungsfehler festgestellt wurden. Bei noch mehr Fehlern hätten wir unseren Trip auf dem Río San Juan wegen Zeitmangel ausfallen lassen müssen, denn die Fehlersuche war langwierig und ein Ende nicht absehbar. Am Abend vor unserer Abreise wurden bis lange nach Eintritt der Dunkelheit mit Hilfe von Franz die letzten Ausbesserungen, die Montage der Außenbeleuchtung, die Inbetriebsetzung der solaren Notstromversorgung, Einstellungen, Einweisungen usw. vorgenommen sowie alle Stromkreise, Sicherungen, Schalter und Steckdosen geprüft und vermessen.

In der Nacht vom Sonntag, dem 7. Januar, war der längst ersehnte Moment gekommen. Unser Elektron, welches gemeinsam mit den anderen Elektroteilchen in der Batterie seit langem auf eine Abwechslung wartete, geriet in Bewegung, als Sven den Hauptschalter betätigte. Durch zwei für positive und negative Teilchen getrennt unterteilte Kabel gelangte der Strom zu einem Umwandlungsgerät, welches Wechselrichter hieß. Dieser sollte den 24 Volt „Baby“- Strom aus den Batterien in netzüblichen 120-Volt-Wechselstrom umformen. Dabei wurde unser Elektron in einem komplizierten Durcheinander von Elektronik mit den vorher sortierten Elektroteilchen durcheinandergeworfen und mit einer Taktfrequenz von 60 Schwingungen je Sekunde aufgerüttelt.


Zügig ging die Reise weiter durch eine Welt aus Elektrozeug, erst mit noch vielen Elektroteilchen über dicke Hauptkabel vorbei an geöffneten großen Toren (Hauptschalter), Gabelungen (Verteilungen) und Brücken (Sicherungen) mit immer weniger Teilchen in Begleitung auf Zufahrtswegen zu Wegkreuzungen (Verteilerdosen) und zum Schluß fast allein auf schmalen Pfaden zum Bestimmungsort unseres Elektrons - einer Energiesparlampe im Innenhof. Das lange Warten und der abenteuerliche Weg hatten sich gelohnt, den in dieser Lampe wurde aus unserem Elektroteilchen wieder ein Photon. Glücklich über die Rückwandlung erstrahlte es im alten Glanz. Zusammen mit den anderen Teilchen erhellte es feierlich den Neubau zu einem flimmernden, leuchtenden Lichterfest.

Am Ende möchte ich unseren Koordinator Franz lobend erwähnen, der hier bewältigte, wofür üblicherweise ein Team an Fachkräften wie: Architekten, Bauingenieuren, Statikern, Bauleitern für die verschiedensten Gewerke Stahlbau, Maurer, Rohrleger, Fliesenleger, Dachdecker, Klempner, Fachplaner für Haustechnik, Innenausbau, Vermessungstechniker, Metallbauer, Hoch- Tiefbau... usw. eingesetzt wird.

Das Team in Nicaragua hat hier wieder einmal ein gelungenes Projekt sehr effektiv realisiert. Dieses nach der Zucker- und Zementfabrik drittgrößte Gebäude unserer Partnergemeinde setzt neue Maßstäbe in der Region und darüber hinaus. Richtungsweisend sind vor allem die fachliche Ausführung, die hohe Bauqualität, der umgesetzte Ausbildungsaspekt für angelernte Jugendliche, ökologisches Bauen, Abwasseraufbereitung und die Tatsache, dass trotz aller Hindernisse und Schwierigkeiten sehr kostengünstig gebaut wurde.