Alphabetisierung von Erwachsenen in San Rafael del Sur

Erwachsene brauchen andere Programme als Kinder; sie sind bereit zu lernen, wenn sie das Gelernte möglichst unmittelbar anwenden und verwerten können. In den bislang entwickelten Alphabetisierungsprogrammen für Erwachsene wird angestrebt, den Erwerb der allgemeinen Grundfertigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen mit der Vermittlung praktischer erwerbssichernder Grundkenntnisse und -fertigkeiten zu verbinden (funktionale Alphabetisierung). Ebenso wichtig sind Nach-Alphabetisierungsprogramme, in denen die Lernenden die erworbenen Kenntnisse vertiefen und verfestigen können, um sich mit Hilfe von schriftlichen Material die erforderlichen Grundkenntnisse in Bereichen wie Gesundheit, Ernährung, Landwirtschaft und Kleinhandel anzueignen.

 

In den 6 Landgemeinden Los Jaras, Los Cordobas, El Zapote, San Jose Km 54, La Gallina und Loma Alegre werden seit Anfang des Jahres 2005, finanziert mit 5000,- € über die Hans-Böckler-Stiftung, weitere Kurse zur Alphabetisierung und Nach-Alphabetisierung von Erwachsenen zur Erreichung des Abschlusses der 4ten Grundschulklasse durchgeführt. Insgesamt 131 Menschen begeistern sich für die Kurse, davon 81 Frauen und 50 Männer im Alter von durchschnittlich 34 Jahren. Geplant waren 10-15 TeilnehmerInnen pro Kurs. Die tatsächliche Belegung von durchschnittlich 21 TeilnehmerInnen zeigt ein großes Interesse der Bevölkerung. Auch erleichtert die dezentrale Durchführung der Kurse in den o.g. Landgemeinden den Zugang zu den Kursen. Die Ausführung der Maßnahme erfolgte in enger Zusammenarbeit mit dem Erziehungsministerium MEDC in San Rafael del Sur, PAEBANIC (cooperacion espanola, eine spanische NRO), den lokalen Schulkomitees sowie unserem lokalen Partner CEDRU.

 

Das Konzept des Alphabetisierungsprogramms orientiert sich an der Unterrichtsmethode von Paolo Freire (1921-1997), der weltweit bekannt wurde durch seine Erwachsenenbildungsarbeit in Lateinamerika und Afrika, die im unmittelbaren Kontext steht mit dem Kampf gegen Unterdrückung und Elend, für Befreiung, Gerechtigkeit und Demokratie. Diese "Pädagogik der Unterdrückten" fußt im Wesentlichen darauf, den sozialen und gesellschaftlichen Kontext der Lernenden/SchülerInnen zu berücksichtigen. Aus dem unmittelbaren Erfahrungsraum der SchülerInnen werden Wörter wie "Baumschule" oder "Gemüsegarten" benutzt und nicht etwa "elektrischer Toaster", den sie nicht kennen und nie besitzen werden. Ja, das kenne ich auch, als ich nach zwei Jahren Leben in Äthiopien in Deutschland in die Schule kam und einen Blumenkohl malen sollte - ich wusste gar nicht, was ein Blumenkohl ist!

 

Der Erwerb dieser allgemeinen Grundfertigkeiten (Lesen, Schreiben, Rechnen) wird mit der Vermittlung praktischer erwerbssichernder Grundkenntnisse verbunden. So wurden unter Einbeziehung einzelner MitarbeiterInnen von CEDRU mit den Teilnehmern und Teilnehmerinnen dieser Alphabetisierungskurse konkrete Projekte wie die Einrichtung von Baumschulen und Anlage von Gemüsegärten durchgeführt. Dies führt auch zur Verbesserung der Einkommenssituation der Kleinbauern in den beteiligten Gemeinden. Von daher ist auch die hohe Nachfrage der Betroffenen zu erklären. Es stellt damiteinen klaren Ansatz von Hilfe zur Selbsthilfe dar, um den eigenen Lebensunterhalt weiter zu sichern.

 

Paulo Freires Methode des Alphabetisierungsprogramms fußt im Wesentlichen darauf, aus dem unmittelbaren Erfahrungsraum der Gruppe, mit der gearbeitet wird, sogenannte generative Wörter zu benutzen, deren Silben durch Rekombination die Bildung neuer Wörter ermöglichen. Konkret: In der Lerngruppe wird ein generatives Wort wie z.B. Favela (Slum) zunächst bildlich dargestellt (Kodierung), dann die gezeigte existentielle Situation diskutiert und thematisch interpretiert (Dekodierung). Nachdem alle relevanten Aspekte besprochen sind, erscheint ein Bild des Schlüsselwortes mit seinen semantischen Gliedern, also zunächst FAVELA und dann die Silben aufgegliedert FA-VE-LA. Schritt für Schritt werden schließlich die phonetischen Gruppen gezeigt, hier also FA-FE-FI-FO-FU, dann VA-VE-VI-VO-VU und LA-LE-LI-LO-LU. Ist dies geschehen, bildet die Gruppe mit den vorhandenen Silben neue Wörter.

 

Freire ging es aber um mehr als um Alphabetisierung. Im Mittelpunkt seines pädagogischen Konzepts steht die Entwicklung eines kritischen Bewusstseins bei den Machtlosen und Unterdrückten. In einer Einheit von Reflexion und Aktion sollen diese die Machtverhältnisse und das eigene Handlungspotential erkennen mit dem Ziel, die Welt zu verändern. Freires Ziel besteht darin, durch Bildung eine gewaltlose Revolution zu erreichen. Sein Grundgedanke ist, dass nur wer die Welt benennen kann, d.h. nur wer die Sprache in Wort und Schrift beherrscht, in der Lage ist, die Welt zu verändern.

 

Erziehung kann nach Freire niemals neutral sein, sie hat immer auch eine politische Dimension. Sein Konzept ist die "problemformulierende Bildung", in deren Mittelpunkt die Frage nach dem "Warum" steht. Dabei sollen die Menschen "die Kraft (entwickeln), kritisch die Weise zu begreifen, in der sie in der Wirklichkeit existieren (...). Sie lernen die Welt nicht als statische Wirklichkeit, sondern als eine Wirklichkeit im Prozess sehen, in der Umwandlung" (Pädagogik der Unterdrückten, S. 67). Der Schlüsselbegriff in Freires Konzeption ist conscientização, Bewusstwerdung. Das ist der Lernvorgang, "der nötig ist, um soziale, politische und wirtschaftliche Widersprüche zu begreifen und um Maßnahmen gegen die unterdrückerischen Verhältnisse der Wirklichkeit zu ergreifen" (Pädagogik der Unterdrückten, S, 25). Erst der Bewusstwerdungsprozess versetzt den Menschen in die Lage, als Subjekt zu agieren.

 

Die Situation in der Gemeinde San Rafael del Sur
Die gegenwärtige Lage im nicaraguanischen Bildungssystem kann man nur als katastrophal bezeichnen. Unter den liberalen Regierungen der letzten Jahre ist die Analphabetenquote wieder auf über 36% gestiegen ( im Vergleich: Costa Rica 4,8%, Panama 8,9%). Speziell in den ländlichen Gegenden sind 40% der Erwachsenen Analphabeten, und 52% der Kinder im Schulalter gehen nicht zum Unterricht. Die Kinder, die zur Schule gehen, erreichen nur einen Durchschnitt von 2,6 Jahren Schulzeit. Die Gehälter der Lehrer/innen liegen unter dem Existenzminimum.

 

Der größte Teil der Bevölkerung der Region San Rafael del Sur lebt in 59 Landgemeinden/ kleinen Dörfern. Dieser Bevölkerungsteil lebt in seiner Mehrheit von Subsistenzwirtschaft und fast 70% hat monatliche Einnahmen von unter 30 Dollar. Gleichzeitig sind fast 50% der Einwohner unter 15 Jahre alt. Für sie existiert aus finanziellen Gründen nur begrenzt ein ausreichender Zugang zu Grundschulen, so dass in Teilregionen von San Rafael del Sur der Schulbesuch auf 50% eines Jahrgangs zurückgegangen ist. Die Ausstattung der Schulen ist unzureichend, die Lehrer/innen werden kaum fortgebildet. Diese Faktoren sowie die ungünstigen Einkommensverhältnisse führten zum Rückgang bzw. Verkürzung des Schulbesuchs und ließen die Analphabetenrate ansteigen. Dieses führt langfristig zu einer Schwächung des ländlichen Entwicklungspotentials und erhöht die Armut. Die Gemeindeverwaltung sowie das Erziehungsministerium sind aufgrund fehlender Mittel kaum in der Lage, im ländlichen Bereich über die Finanzierung von Lehrer(innen)stellen hinaus aktiv zu werden. Besonders benachteiligt sind Frauen und Mädchen, insbesondere alleinerziehende Frauen. Für sie stehen aufgrund ihrer Bindung an das Dorf auch kaum alternative Einkommensmöglichkeiten, z.B. in der Stadt, zur Verfügung.

 

Der Verein hat schon in der Vergangenheit Alphabetisierungskurse in bisher 9 Landgemeinden durchgeführt, womit aber nur der dringendste Bedarf abgedeckt werden konnte. Die Bevölkerung ist sensibilisiert für eine befriedigende Grundbildung. Ihre Erfahrungen bei der eigenständigen Vermarktung ihrer Produkte verdeutlichen die Notwendigkeit, selbst Lesen, Schreiben und Rechnen zu können, um selbständig agieren zu können. Der Zusammenhang zwischen Bildung und den Möglichkeiten einer selbstbestimmten Entwicklung ist den Betroffenen zunehmend bewusster geworden. Das Interesse der Erwachsenen, vor allem der Frauen an Alphabetisierungskursen ist daher anhaltend hoch. Damit verbunden ist die Perspektive, langfristig über verbesserte Bildungsmöglichkeiten verbesserte Lebensbedingungen und Partizipationsmöglichkeiten zu erreichen und seine Grundrechte besser durchsetzen zu können.

 

Christiane Kleinschmidt